[avatar user=“AnjaC“ size=“75″ align=“left“ /]Heute haben wir eine ganz große Ausstellung für Euch. Wer nach Neu-Ulm kommt, sollte bei The Walther Collection unbedingt einen längeren Halt einlegen. In dieser Ausstellung ist alles versammelt, was zu Recht Rang und Namen in der Fotografenwelt hat.
Die Ordnung der Dinge
Moderne und zeitgenössische Fotografie
The Walther Collection
Die Ordnung der Dinge. Moderne und zeitgenössische Fotografie aus der The Walther Collection untersucht die Entwicklung von typologischen und seriellen Bildkonzepten in der Geschichte der Fotografie. Anhand von Werken aus Europa, Afrika, Asien und Nordamerika geht die Ausstellung der Frage nach, wie das Ordnen von Fotografien in Serien und Sequenzen, typologischen Rastern und zeitbezogenen Performances unsere moderne visuelle Kultur beeinflusst.
Richard Avedon, The Family: Ralph Nader, consumer advocate, Washington, D.C., June 8, 1976; Barbara Jordan, U.S. Congresswoman (Texas), New York, July 14, 1976; César Chávez, organizer, United Farm Workers, Keene, California, June 27, 1976; Katherine Graham, Chairman of the Board, The Washington Post Company, Washington, D. C., March 11, 1976; George Bush, Director, CIA, Langley, Virginia, March 2, 1976; Daniel Patrick Moynihan, former U.S. Representative to the United Nations, New York, July 12, 1976 © The Richard Avedon Foundation
Die Ausstellung, kuratiert von Brian Wallis, Chefkurator des International Center of Photography in New York, ist noch bis zum 27. September 2015 in Neu-Ulm zu sehen. Während der gesamten Epoche der Moderne wurde die Fotografie dazu benutzt, die Dinge der Welt zu klassifizieren. Die der Klassifizierung von Fotografien zugrunde liegende Logik formt im Glauben an die wissenschaftliche Objektivität der fotografischen Aussage zugleich unser visuelles Bewusstsein. Im 21. Jahrhundert haben Globalisierung und neue digitale Technologien die Anwendungen der Fotografie radikal verändert, sodass heute visuelle Informationen kritisch hinterfragt und neu überdacht werden müssen.
Die Ordnung der Dinge bietet eine historische, politische und philosophische Grundlage zum Verständnis neuerer Organisationsmethoden in der Fotografie weltweit und untersucht die Ambivalenzen der Dokumentarfotografie sowie die sozialen Bedingungen des Bildes in der Kultur der Gegenwart. Die Ausstellung ist die erste größere Untersuchung dieser kulturübergreifenden Richtung in der Fotografie und zeigt, wie unterschiedlich Künstler sequentielle Organisations- und Gestaltungsprinzipien einsetzen – oder diese bewusst zu unterlaufen versuchen.
Bernd und Hilla Becher, Kies- und Schotterwerke, 1988-2001. Courtesy The Walther Collection und Sonnabend Gallery
Der hier verfolgte Ansatz hinterfragt die konventionelle Fotografiegeschichte, die sich bis in die jüngste Zeit vor allem auf die einzelne Fotografie und den sogenannten „entscheidenden Moment“ konzentrierte. Die Ordnung der Dinge präsentiert eine Vielfalt unterschiedlichster fotografischer Serien und setzt die frühen modernistischen Fotografen August Sander und Karl Blossfeldt mit internationalen zeitgenössischen Künstlern wie etwa J.D. ‚Okhai Ojeikere und Ai Weiwei in Dialog. Dabei wird untersucht, wie sich konzeptuelle Strukturen in Fotografie, serieller Porträtfotografie und zeitbezogenen Performances weltweit entwickelt haben und in welchem Zusammenhang diese Arbeiten mit neueren kulturellen Praktiken stehen. Zu den Höhepunkten der Ausstellung gehören Richard Avedons The Family (1976), Nobuyoshi Arakis 101 Works for Robert Frank (Private Diary) (1993), Samuel Fossos African Spirits (2008) und Zanele Muholis
Faces and Phases (2006-14).
Die Ordnung der Dinge zeigt insbesondere, dass sich die Strategien vieler zeitgenössischer Fotografen weltweit grundsätzlich ähnlich sind. Zu den Künstlern der Ausstellung gehören Dieter Appelt (Deutschland), Nobuyoshi Araki (Japan), Richard Avedon (USA), Bernd und Hilla Becher (Deutschland), Karl Blossfeldt (Deutschland), Song Dong (China), Zhang Huan (China), Yoshiyuki Kohei (Japan), Eadweard Muybridge (GB), J.D. ‘Okhai Ojeikere (Nigeria), August Sander (Deutschland), Ed Ruscha (USA), Accra Shepp (USA) und Ai Weiwei (China). Diese Fotografen verfolgen einen subjektiven, oft skeptischen Ansatz im sozialen Aufbau ihrer fotografischen Aussage, der sich in typologischen Rastern, Serien, Sequenzen und Sammlungen von Bildern kulturspezifischer Muster zeigt.
Zhang Huan, Family Tree, 2001. Courtesy The Walther Collection und Pace Gallery
Die Ordnung der Dinge konzentriert sich auf das Individuum und auf Aspekte der kulturellen Identität. Die Ausstellung umfasst eine repräsentative Auswahl von Alltagsfotografien aus dem späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert – Fahndungsfotos, Panoramen und kommerzielle Architekturbilder. Die Ordnung der Dinge nimmt Bezug auf die bewegte Geschichte von pseudowissenschaftlichen Bildarchiven, die erstellt wurden, um die Legitimität von Phrenologie, Polizeiarbeit, medizinischen Experimenten, Staatsbürgerschaft und Rechtsstaatlichkeit zu beweisen. Die gezeigten Sammlungen veranschaulichen, wie die sozialen Anwendungsmöglichkeiten der Fotografie von ihrer Zeitlichkeit, Vielfalt, Serialität, narrativen Abfolge und logischen Ordnung abhängen.
Im Gegensatz zu dieser Tradition erstellen viele Künstler Gegen-Archive und bringen streitbare Argumente gegen die verdeckte Voreingenommenheit angeblich neutraler institutioneller Dokumente vor. Zeitgenössische Überarbeitungen dieser typologischen Methode, die erstmals im Deutschland der 20er Jahre aufkam, werden durch den Kontrast zwischen Richard Avedons Serie The Family mit 69 Porträts von Power Brokern aus den 70er Jahren und Accra Shepps 2011–12 entstandener Serie mit 42 Porträts von Aktivisten der Occupying Wall Street Protestbewegung in New York deutlich veranschaulicht. Aus einer ganz anderen politischen Perspektive zeigt Zanele Muholi ihre Porträts von einzelnen, verfolgten südafrikanischen Schwulen und Lesben in Faces and Phases, für die sie sich die repressive Form des rechtsgültigen Passfotos zu eigen macht und umkehrt, um diesen Bürgern die soziale Sichtbarkeit zurückzugeben, die ihnen regelmäßig aberkannt wird.
Zanele Muholi, Faces and Phases, 2006-14. Courtesy The Walther Collection und Stevenson, Cape Town und Johannesburg
Das Studioporträt gibt vielen Künstlern die Möglichkeit zur Entwicklung von Identität oder zur Selbstdarstellung. Die Ordnung der Dinge zeigt die Gattung des Studioporträts als Ausgangspunkt für einen ambitionierten, kritischen Dialog. In den frühen Porträts von Samuel Fosso steht der Künstler sich selbst während der Pausen in seinem Studio in verschiedenen, einfallsreichen Verkleidungen Modell. In seiner neueren Serie, African Spirits, schlüpft Fosso in die Rollen von ikonischen Führern der pan-afrikanischen Befreiungsbewegung, indem er offizielle, historische Porträts von Nelson Mandela, Angela Davis, Patrice Lumumba, Malcolm X und Muhammad Ali und anderen nachstellt. Fossos höchst theatralische Inszenierungen ehren nicht nur diejenigen, die den postkolonialen Kampf prägten, sondern sind auch ein Kommentar dazu, wie ihre Selbstinszenierungen und ihr modischer Stil bei der Bildung und Durchsetzung ihrer politischen Ideale halfen.
Eadweard Muybridge, Animal Locomotion: Females & Males (draped). Plate 207. Stooping and lifting train, 1887. Library of Congress Prints and Photographs Division, Washington, D.C.
Von entscheidender Bedeutung für alle Künstler in Die Ordnung der Dinge ist der Begriff der Zeit. Eine Folge von Bildern von Eadweard Muybridge aus den 1880er Jahren visualisiert die Zeit durch Verwendung der Stop-Motion-Technik und zeigt Abfolgen von Bewegungen als Vorläufer des Films. Spätere Fotografen in der Ausstellung nehmen nicht nur Sequenzen von Ereignissen in der Zeit auf, sondern machen die Zeit und den mit ihr einhergehenden Verfall zu ihrem Thema. Die Raster der stillgelegten Industrieanlagen von Bernd und Hilla Becher katalogisieren und bewahren architektonische Formen in Typologien ebenso wie Ai Weiweis Triptychon Dropping a Han Dynasty Urn von 1995 die Sequenz der Zerstörung eines wertvollen Kulturgutes aufzeichnet. Das Bewahren oder die Verehrung des kulturellen Erbes wird zum Ausdruck der nationalen politischen Zugehörigkeit.
Ai Weiwei, Dropping a Han Dynasty Urn, 1995. Courtesy The Walther Collection und Lisson Gallery
Die Auseinandersetzung mit der Zeit ist häufig mit Formen der Performance verbunden. Die Aufzeichnung von sequenziellen Ereignissen in der Zeit, wie in einem Tagebuch, oder die Notation eines Vorgangs in seiner Vergänglichkeit und die Spur des Atems auf einem Spiegel können Handlungen von weitreichenden Auswirkungen und tiefer Bedeutung sein. Song Dongs Installation Printing on Water von 2003, die Dokumentation einer Performance, bei der der Künstler mit einem Stempel auf den Lhasa Fluss in Tibet immer wieder das Schriftzeichen für „Wasser“ druckt, hat einen deutlich politischen Nachhall, in dem sie die Spiritualität des heiligen Flusses angesichts der anhaltenden Kämpfe zwischen China und Tibet heraufbeschwört. Auf ganz andere Weise sind Nobuyoshi Arakis tagebuchartige 101 Works for Robert Frank (Private Diary) eine Notation von Aspekten des Alltagslebens – Frauen in erotischen Posen, Stillleben, Landschaften, Architektur, Innenräume mit einer Katze und Aufnahmen des Himmels – die alle eine poetische Banalität reflektieren, nämlich die Trauer des Künstlers um den Tod seiner Frau.
Nobuyoshi Araki, 101 Works for Robert Frank (Private Diary), 1993. Courtesy The Walther Collection und Anton Kern Gallery, New York
Die ungeheure Vielfalt der in Die Ordnung der Dinge gezeigten Arbeiten zeigt bedeutende, globale Entwicklungen in der zeitgenössischen Fotografie, die sich die typologischen Organisationsformen der großen Fotografen der Geschichte zum Vorbild nimmt und gleichzeitig ihren Blick erwartungsvoll auf die Anwendungsmöglichkeiten dieser Modelle für die Bildproduktion im einundzwanzigsten Jahrhundert richtet.
Publikation zur Ausstellung
Begleitend zur Ausstellung erscheint ein Katalog bei Steidl/The Walther Collection: Die Ordnung der Dinge untersucht die Entwicklung von typologischen Bildsequenzen, serieller Bildlichkeit, konzeptueller Porträtfotografie, archivarischer Fotografie und zeitbezogenen Performances. Der Katalog spannt einen Bogen von frühen Fotografien der 1880er Jahre bis in die Gegenwart und umfasst künstlerische Positionen aus Europa, Afrika, Asien und Nordamerika. Die Ordnung der Dinge erscheint mit einer Einführung des Herausgebers Brian Wallis, einem Gespräch zwischen Brian Wallis und Artur Walther sowie Beiträgen von Christopher Phillips, Geoffrey Batchen und Tina Campt.
The Order of Things. Photography from The Walther Collection. Brian Wallis (Hg.)
448 Seiten, 186 Abbildungen, 29 x 29 cm, Hardcover, leinengebunden mit Schutzumschlag
Steidl Verlag/The Walther Collection
The Walther Collection
The Walther Collection ist eine internationale Privatsammlung, die sich auf das Erforschen, Sammeln, Ausstellen und Publizieren moderner und zeitgenössischer Fotografie und Videokunst konzentriert. Die Sammlung wird von der gemeinnützigen Walther Family Foundation getragen und verfügt über zwei Ausstellungsstandorte: The Walther Collection in Neu-Ulm/Burlafingen und The Walther Collection Project Space in New York City.
Besucherinformationen The Walther Collection Reichenauerstraße 21, 89233 Neu-Ulm/Burlafingen Tel + 49 731 1769143 [email protected] Facebook: www.facebook.com/thewalthercollection Twitter: @walthercollect Ausstellungsdauer: bis 27. September 2015 Öffnungszeiten: Kostenfreier Ausstellungsrundgang ohne Führung (keine Voranmeldung nötig): Fr 17 Uhr, Sa und So 15 Uhr Privatführungen und Schulführungen nur nach Vereinbarung.
Bilder und Texte mit freundlicher Genehmigung von The Walther Collection