Rezension: Andreas Herzau. Helvetica

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Die Schweiz schlaglichtartig erfasst

Im Frühjahr 2017 bin ich auf Andreas Herzau und seine Bilder aus der und über die Schweiz aufmerksam geworden, denn die FREELENS Galerie in Hamburg stellte damals die Fotografien aus. Vor kurzem fiel mir dann – nein, Zufälle gibt es nicht – auf der Frankfurter Buchmesse am Stand des Nimbus Verlags das Buch „Helvetica“ in die Hände, das genau jene Bilder zeigt. Jetzt liegt es zum wiederholten Male vor mir, während ich endlich die Rezension dazu schreibe.

Schon allein das Anfassen und Durchblättern macht Freude: das Buch hat mit ca. 24 x 34 cm ein ordentlich großes Format und einen sehr stabilen Einband, der mich an Bilderbücher für Kinderhände erinnert. Und genau das ist es ja irgendwie auch: ein Bilderbuch. Eindeutig ist es dazu gedacht, auf einen Tisch oder ein Lesepult gelegt und mit Ruhe angesehen zu werden. Auch die Bindung ist gut gewählt – keine noch so kleine Bildinformation bei einem über eine Doppelseite gehenden Bild geht in der Falz verloren, alles liegt plan. Also: Haptik, Material und Ausführung sind klasse und die 65 Fotografien wirken durch die pure Größe und die stabile Papierwahl allein für sich.

So ist es auch beabsichtigt, denn bis auf wenige Gedichte von Nora und Eugen Gomringer unterbricht kein weiterer Text die Bilderfolge. Es gibt kein Vorwort, keine Einführung, keine Metadaten, keine Ortsangaben, keine erklärenden Bildunterschriften. Erst ganz am Ende des Buches finde ich Andreas Herzaus Nachwort, in dem er dem Leser auf einer knappen Seite erklärt, wie er die Welt sieht und was für ihn Fotografie bedeutet. Wohlformulierte Sätze, mit denen ich etwas anfangen kann und von denen ich nur einen zitieren möchte:

„Für mich ist Fotografie weniger das Sehen, sondern das Lesen und Verstehen, wie eine Gesellschaft funktioniert, deren Teil ich bin.“

Der Inhalt

Der geneigte Leser dieses Artikels mag sich schon gefragt haben, was denn nun eigentlich drin ist im Buch. Fotografien. Aus der Schweiz. So viel ist klar. Na und? Kennen wir doch alle: die Alpen, die Touristen, ein paar Alphornbläser, Skigebiete, weißes Kreuz auf rotem Grund. Ja, die Motive sind auch da. Aber Andreas Herzau hat hier keine Postkartenmotive fotografiert. Er hat stattdessen ins Bild gebannt, wie er die Schweiz sieht und erlebt. Das macht er mit immer scharfem Blick und gelegentlich herrlichem Humor, z.B. wenn vor der bildfüllenden Schweizer Flagge unten rechts im Eck ein weißes Hinweisschild mit schwarzer Schrift den Weg zum „Eingang für Besucher“ anzeigt.

Rezension: Andreas Herzau. HelveticaDas 1962 erschienene Buch „Die Deutschen“ des großen Schweizer Fotografen René Burri war die Motivation des Bildjournalisten und Hochschuldozenten Herzau, der Schweiz sozusagen einen fotografischen Gegenbesuch abzustatten – mit allen Vorurteilen, Erwartungen, gedanklichen Bildern im Kopf, die wohl die meisten von uns haben (ihr wisst schon: die Alpen, die Skigebiete, ….).

Andreas Herzau spielt mit diesen Klischees, findet sie manchmal, manchmal aber ganz anderes, und vor allem zeigt er uns, dass die Schweiz und ihre Bewohner darauf nicht reduziert werden können.

Landschaften, Menschen (junge Menschen vor allem), Orte, Tätigkeiten, Detailaufnahmen wechseln sich ab.

Schlaglichter sind das, Momentaufnahmen. Eine nach der anderen, ohne Kommentar, oftmals stark kontrastierend einander auf zwei Buchseiten gegenübergestellt.

Man könnte fast beim Betrachten den Auslöser hören:

Links ein Blick von außen in ein Zugabteil, in dem jemand Martin Suters „Der Koch“ liest, das Zugfenster quasi ein Bild im Bild, schöne grafische Kontraste und Farbflächen. KLICK. Rechts zwei sehr kurzhaarige Männer von hinten im schwarzen T-Shirt, auf einem die Aufschrift „Since 1921“, die am Himmel eine Kampfflieger-Formation passieren sehen. KLICK. Umblättern… eine Staffelei mit Landschaftsmalerei (blauer See, weiße Berge, blauer Himmel) steht am Seeufer mit schmutzig-grün-grauem Wasser, links daneben die orangefarbige SOS-Säule, im Hintergrund Graffitti besprühte Betonwände, obendrüber eine Straßenbrücke. KLICK.

So könnte ich euch jetzt jedes einzelne Bild beschreiben, aber das würde euch den Genuss des Betrachtens nicht ersetzen. Nicht allein das, was im Bild zu sehen ist, macht den Reiz aus, sondern das, was dabei in unseren Köpfen abgeht: was wir auf den ersten Blick sehen, was erst auf den zweiten – oder vielleicht gar nicht. Was wir (wiederer-)kennen von der Schweiz (die Touristenmotive, die Neutralität, die Wehrhaftigkeit, die Tradition) und was uns erst oder dauerhaft fremd ist. Manche Bilder, so denke ich, könnten auch in anderen Ländern aufgenommen worden sein – und warum auch nicht? Es muss ja nicht alles anders sein bei unseren Nachbarn als bei uns. Auch in Deutschland deckt so mancher sein Auto mit einer „Textilgarage“ ab ;-). Bei ganz wenigen Bildern fehlt mir das Hintergrundwissen, ich weiß nicht, was das ist. Da müsste man mal in die Schweiz fahren und es herausfinden…

Mich jedenfalls faszinieren die Bilder. Ich überlege wie damals im Deutschunterricht „was will uns der Autor damit sagen?“, denke aber weiter: „und was sagt es mir?“

Für wen ist dieses Buch geeignet

Für Schweizer, die wissen wollen, wie ein Fremder sie und ihr Land sieht.
Für Nicht-Schweizer, die ihre Vorstellungen und Eindrücke von der Schweiz überprüfen wollen.
Für alle, die die Schweiz und die Schweizer mögen und beide mit offenen Augen betrachten.
Für Fans von ungewöhnlich gutem Bildjournalismus.

Fazit

Wer sich auf die Schweiz und auf einen Bildband ohne Bildkommentare einlassen möchte, sollte sich dieses Buch nicht entgehen lassen. Ganz großes Kino, das sicher nicht im Regal verstaubt. Alle 5 Sterne.

Die Daten

Andreas Herzau. Helvetica. mit gedichten von eugen und nora gomringer erschien am 11. September 2017 im Nimbus Verlag. 96 Seiten, 65 Fotografien, gebunden, 23,8 x 2 x 34 cm.
ISBN: 978-3-03850-039-1
Preis: EUR 38,00 | CHF 42,00

Hier gibt es den Buchtrailer als Video:

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Rezension: Anja Hoenen

Unsere Bewertung:

 

Helvetica: Mit gedichten von eugen und nora gomringer (Gebundene Ausgabe)

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Andreas Herzau. Helvetica. Nimbus Verlag
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