Fotografische Zeitreise durch die österreichische Geschichte
Das mumok Museum moderner Kunst in Wien zeigt noch bis zum 3. Februar 2019 Werke aus der eigenen Fotosammlung, ergänzt durch Leihgaben aus zahlreichen anderen Institutionen. Die großangelegte Fotoausstellung führt durch 100 Jahre österreichische Geschichte. Parallel dazu werden die Entwicklung der Fotografie und die Vielfalt der verwendeten Formate sichtbar.
Eine Ansichtskartenserie des Justizpalastbrandes (1927), Ernst Haas’ Heimkehrer– Fotoserie (1947) oder Heimrad Bäckers Mauthausen-Dokumentation (1970er-Jahre), Friedl Dickers Montagen über die sozialen Zustände in den frühen 1930er-Jahren oder Seiichi Furuyas Auseinandersetzung mit der Staatsgrenze (1981–1983) fungieren ebenso als Bausteine eines visuellen Panoramas österreichischer Zeitgeschichte wie Setfotos zu Sissi – Die junge Kaiserin (1956), Barbara Pflaums retuschierte Vorlagen für ihr berühmtes Franz-Olah-Cover der Wochenpresse (1963) oder Ingeborg Strobls Fotoserie, die rund um die Volksabstimmung zu Österreichs EU-Beitritt 1994 entstand.
In der vom Künstler Markus Schinwald gestalteten Ausstellung fungieren Pressefotografien, künstlerische Werke, Zeitungsausschnitte oder Plakate als „Schlagbilder“ (Michael Diers), die die Schlagzeilen vergangener Tage ergänzen und zuspitzen.
Der Filmtheoretiker und Geschichtsphilosoph Siegfried Kracauer stellte sich die Frage, wie Geschichte überhaupt (be-)schreibbar sei, und sah zwischen Historiografie und Fotografie entscheidende Parallelen.
In seinem letzten, unvollendeten Werk Geschichte – Vor den letzten Dingen (1969) verglich er die Wirklichkeit der Kamera mit der durch historisches Wissen konstruierten Realität:
Beide geben die ins Auge gefasste Gegenwart nur als Ausschnitt wieder, in beiden sah er das Spontane mit dem Konzeptionellen vermischt und erhoffte von dieser Wechselwirkung die Entstehung eines neuen Blickwinkels, der weder ideologisch gefärbt noch rein subjektiver Natur sein könne.
Fotografische Bilder haben die Fähigkeit, als Ikonen zu wirken, gleichsam stellvertretend für komplexe Zusammenhänge. Anhand der in der Ausstellung Photo/Politics/Austria gezeigten Bilder aus 100 Jahren, die im architektonischen Setting wie auf einem kolossalen Leporello vor den Betrachtern aufgefächert werden, lassen sich aber auch zeitübergreifende Narrative ablesen. In Serie betrachtet, erzählen die Fotografien von der Imagebildung einer Nation, von Repräsentation und Manipulation, von Klischees und Brüchen und von ihrem Einsatz zu Propagandazwecken.
Ein frühes Beispiel dafür ist Engelbert Dollfuß, der als erster österreichischer Politiker die damals neuen Medien geschickt zu nutzen wusste: Er ließ Fotografien seiner Person auf Plakate setzen und war auch der Erste, dessen politische Reden über das Radio Verbreitung fanden. Ein Foto von 1933 zeigt den damaligen Kanzler auf dem Weg zur internationalen Wirtschaftskonferenz in London. Mit im Bild das Mikrofon des Radioreporters und der Fotograf mit Kamera und Stativ.
Stellvertretend für das Jahr 1956 steht eine anonyme Schwarz-Weiß-Fotografie, die Ungarnflüchtlinge auf dem Weg nach Österreich zeigt. Vor dem Hintergrund des Kalten Krieges führte dies zunächst zu einer Welle der Solidarität, die im kollektiven Gedächtnis der Österreicher eine wichtige Rolle spielte und zur positiven Stilisierung als humanitäres Aufnahmeland beitrug.
Die Aufnahme wird konterkariert von einem Fotoalbum aus demselben Jahr, das Setaufnahmen des berühmten Sissi-Films als Kompendium privater Familienfotos präsentiert. Die junge Republik suchte zu Beginn der Wirtschaftswunderjahre nach Identifikationsnarrativen und fand sie u. a. in den imperial-romantizistischen Bildern der Ernst-Marischka-Filme. Die Fiktion übertraf die historische Realität. Das Bild der Nation, das damals geprägt wurde, hat auch heute noch Geltung, es ist gleichsam zur Marke Österreich geworden.
Auch das Image (im doppelten Wortsinn) einzelner Persönlichkeiten aus Politik, Kultur und Sport diente zur Stärkung eines österreichischen Nationalgefühls und vermittelt gleichzeitig die Vielfalt von Medien, in denen diese Bilder Verwendung fanden: Photo/Politics/Austria zeigt Pressefotos von Karl Schranz auf dem Balkon über dem Heldenplatz, Conchita Wurst auf dem Cover der Kronenzeitung oder Falco als Wachsfigur in Madame Tussauds’ Wiener Dependance.
Fotografie als künstlerisches Medium und zugleich zur Vermittlung einer kritischen Bestandsaufnahme gesellschaftspolitischer Phänomene verwendete u. a. die österreichische Künstlerin Ingeborg Strobl: Sie machte die Volksabstimmung über den Beitritt Österreichs zur EU 1994 zum Thema einer Serie, die das Ringen um Mehrheiten, das Agieren der wahlwerbenden Parteien und die Bedeutung, die die Wählerschaft der Frage beimaß, decouvrierte.
100 Jahre Österreich sind auch 100 Jahre Fotografie
Ebenso wie die Republik veränderte sich in der Zeit auch das Medium. Es wurden neue Kameras verwendet, die völlig neue Arten der Reportage erlaubten. Leistungsfähigere Druckprozesse revolutionierten den Zeitungs- und Zeitschriftenmarkt und internationale Distributionsmöglichkeiten erweiterten das Spektrum an verfügbaren Bildern. All dies erhöhte Bedeutung und Präsenz fotografischer Abbildungen im Verhältnis zum geschriebenen Text oder den gezeichneten Illustrationen in den populären Medien.
Der wachsende Einsatz bewegter Bilder zur Nachrichtenübermittlung, vor allem aber die zeitliche Unmittelbarkeit, wie sie heutige Bildübertragung gewährleistet, können als bahnbrechende Neuerungen angesehen werden: Ein unübersehbarer Bilderfluss in Echtzeit stellt sowohl die Kameraleute vor Ort als auch die Redaktionen vor gänzlich neue Herausforderungen.
Fotografien sind Abbilder realer Situationen oder werden manipuliert, um reale Situationen vorzutäuschen. Dabei hat keine Fotografie – gleich ob journalistischer oder künstlerischer Natur – per se eine politische Dimension. Ihre Bedeutung wird ihr erst durch Text und Kontext verliehen. Ist sie allerdings im kollektiven Bewusstsein verankert, prägt sie unsere Vorstellung von vergangenen Ereignissen.
Photo/Politics/Austria entstand in Kooperation mit dem Photoinstitut Bonartes.
Publikation
Photo/Politics/Austria, Hg. v. Monika Faber, Susanne Neuburger – mumok; Vorwort:Karola Kraus; Essays von Monika Faber/Michaela Maier, Andreas Lehne, Gerald Piffl, Marion Krammer/Margarethe Szeless; Grafische Gestaltung: Christoph Steinegger, interkool (Hamburg); Softcover, ca. 160 Seiten; Ca. 250 Farb- und Schwarzweißabbildungen; Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln 2018.
ISBN: 978-3960984245
Preis: 19,80 Euro
Besucherinformationen mumok Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien Museumsplatz 1, A-1070 Wien Ausstellungsdauer: bis 3. Februar 2019 Öffnungszeiten: Mo 14-19 Uhr, Di bis So 10-19 Uhr, Do 10-21 Uhr Eintritt: 12 Euro, ermäßigt 9 Euro, bis 18 Jahre frei
Bilder und Texte mit freundlicher Genehmigung von mumok Museum moderner Kunst.
Unsere chronologische Übersicht aktueller Fotoausstellungen im deutschsprachigen Raum.