Eine Amsterdamer Fotografin des Neorealismus
DAS VERBORGENE MUSEUM in Berlin widmet sich noch bis zum 10. März 2019 dem Leben und Werk der niederländischen Fotografin Maria Austria. Zu sehen sind ca. einhundert Schwarz-Weiß-Fotografien und Dokumente: Bilder vom Leben auf der Straße in den 1950er und 1960er-Jahren, Szenen von den Bühnen der Experimentaltheater und – zum ersten Mal zu sehen -Aufnahmen vom Achterhuis, dem Versteck der Familie von Anne Frank während der Zeit ihrer Verfolgung.
Maria Austria (Marie Karoline Oestreicher) wird 1915 in eine gutsituierte, jüdische Familie in Karlsbad (Karlovy Vary) hineingeboren.
Im Sommer 1933 reist sie mit Leica und Rolleiflex im Gepäck nach Wien, um an der „Graphischen Lehr- und Versuchsanstalt“ eine Ausbildung zur Fotografin zu machen. Sie schließt mit der Note „sehr gut“ ab. Von Anfang an ist sie an den Prozessen in der Dunkelkammer interessiert und entwickelt ihre Negative selbst. Als freie Fotografin erprobt sie sich beim Portraitieren, macht Reportagen für Zeitschriften und entwickelt besonderes Interesse an den avantgardistischen Theaterbühnen um den Wiener Naschmarkt.
Im Sommer 1937 trifft sie die weitsichtige Entscheidung, nach Amsterdam zu emigrieren. Dort lebt bereits ihre Schwester, die Bauhäuslerin und Textilgestalterin Lisbeth Oestreicher. Zusammen richten sie das Atelier Model en Foto Austria ein. Mit dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Niederlande am 10. Mai 1940 verändert sich ihr Leben grundlegend. Sie lehnt es ab, sich als Jüdin der Meldepflicht zu stellen und verdient ihren Lebensunterhalt im Portugiesisch-Israelitischen Krankenhaus, bis sie untertauchen muss. Dabei lernt sie ihren späteren Lebensgefährten, den Widerstandskämpfer Henk Jonker, kennen.
Am 5. Mai 1945 geht in den Niederlanden der Zweite Weltkrieg zu Ende. Das Leben ist noch von Zerstörung und Tod gezeichnet. Auf den Straßen jedoch beginnt sich eine Atmosphäre von Aufbruch und Neubeginn durchzusetzen. Fotografinnen und Fotografen bekommen von den kanadischen Alliierten Filmmaterial gestellt. Sie dürfen mit Genehmigung der Nationalen Streitkräfte für die freie niederländische Presse das Leben in den zerstörten Städten dokumentieren. Es sind Bilder von hungernden und zerlumpten Kindern, von Heimkehrern, Kriegsopfern und immer wieder erschreckende Aufnahmen von Leichen. Um die Aufteilung der Aufträge und den Verkauf der Fotografien besser zu organisieren, gründet Maria Austria mit Kollegen die Foto-Agentur Particam (Partisanen-Camera).
Innerhalb der Fotografie entwickelt sich europaweit der Neorealismus, der von Menschlichkeit und Mitgefühl getragenen Idee einer besseren Gesellschaft. Auch Maria Austrias Fotografien der 1950er Jahre erzählen davon.
Unter Szenen vom Leben in den Städten und Straßen, in den Cafés, auf den Märkten und Spielplätzen findet sich auch die Aufnahme Amsterdam 1950: ein typisches Motiv des Holländers mit seinem Fahrrad, einem robusten Tourenrad mit aufrechter Sitzposition, das zur Identität eines jeden Niederländers gehört. Es wird nach dem Zweiten Weltkrieg gleichsam zum Sinnbild der Befreiung, hatten doch die deutschen Besatzer 1944 die Fahrräder konfisziert und damit der Bevölkerung ganz bewusst ihre Beweglichkeit genommen.
Im Laufe der Jahre fühlt sich Maria Austria immer stärker von der internationalen Szene des Experimentaltheaters angezogen. Deren Darstellerinnen und Tänzer aus der ganzen Welt haben in Amsterdam ihr Zentrum gefunden. Als Hausfotografin des Mickery Theaters, der für freie Gruppen wichtigsten Bühne in Europa, fotografiert sie mit Leidenschaft die Gastspiele der La Mama-Truppe aus New York und die Auftritte des Tenjo Sajiki -Theaters aus Japan. Beide galten in den 1960er-Jahren als konsequentes Avantgarde-Theater. Der Fotografin gelingt die Übertragung der auf der Bühne inszenierten Aggressionen in ihre streng komponierten, ausdrucksstarken Schwarz-Weiß-Fotografien.
Bekannt geworden ist Austria auch durch ihre Portraits aus der internationalen Kunstszene, z.B. von Benjamin Britten, Maria Callas, Albert Schweitzer, Josefine Baker, Martha Graham. Sie waren wie die Fotografin selbst davon überzeugt, in Wort, Bild und Ton am Aufbau einer neuen, besseren Welt mitzuwirken.
Noch nie zuvor zu sehen waren Austrias Aufnahmen vom sogenannten Achterhuis. Dabei handelt es sich um das Hinterhaus in der Prinsengracht 263, in dem sich unter acht jüdischen Verfolgten auch die Familie Frank mit den beiden Töchtern Anne und Margot von 1942 bis zum Verrat 1944 vor der Gestapo versteckt gehalten haben.
Publikationen
Martien Frijns, Maria Austria – Fotografe. Niederländisch, 784 Seiten, Farb-und Schwarz-Weiß Abbildungen, AFdH Verlag, Enschede/Doetinchem 2018
Preis: 34,50 Euro.
Martien Frijns, Maria Austria –Fotografin. Broschüre in Deutsch, 48 Seiten, AFdH Verlag, Enschede/Doetinchem 2018
Preis: 5,- Euro.
Besucherinformationen DAS VERBORGENE MUSEUM Dokumentation der Kunst von Frauen e.V. Schlüterstraße 70, D-10625 Berlin Ausstellungsdauer: bis 10. März 2019 Öffnungszeiten: Do, Fr 15-19 Uhr | Sa, So 12-16 Uhr Eintritt: 3,- €, ermäßigt 1,50 €
Bilder und Texte mit freundlicher Genehmigung von DAS VERBORGENE MUSEUM.
Unsere chronologische Übersicht aktueller Fotoausstellungen im deutschsprachigen Raum.